Warum küssen sich Menschen überhaupt?
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Lippenküsse sind romantisch – ihr Ursprung könnte aber weniger romantisch sein, als manche vielleicht meinen.
© Quelle: Jonathan Borba/Unsplash
Plutarch hätte sich wahrscheinlich darüber geärgert, wie sehr er missverstanden wurde. Der griechische Schriftsteller berichtete, dass Roms Stadtgründer Romulus Frauen das Weintrinken untersagt habe und ihre Männer an ihren Lippen prüften, ob sie sich auch daran hielten. Daraus entstand die Legende, dass Menschen dadurch das Küssen für sich entdeckt hätten.
Plutarch kam allerdings nie zu dieser Schlussfolgerung. Stattdessen vertrat er eine andere Theorie zum Ursprung des Küssens, die auf den griechischen Philosophen Aristoteles zurückging: Nach der Flucht aus ihrer zerstörten Heimatstadt nach Italien hätten trojanische Frauen die Reise für beendet erklärt und die Schiffe verbrannt. Das machte ihre Männer wütend – doch die Frauen hätten sie beschwichtigt, indem sie sie auf die Lippen küssten.
Diese sich widersprechenden Legenden sagen vor allem zwei Dinge aus. Zum einen, dass sich Menschen schon sehr lange küssen, sogar schon deutlich länger als erst seit Plutarchs Lebzeiten von 45 bis 125 nach Christus. Zum anderen, dass schon damals keine Einigkeit darüber herrschte, warum sich Menschen denn überhaupt küssen. An den auf Plutarchs Werken basierenden Sagen dürfte jedenfalls nichts dran sein. Aber Forschende begannen Jahrhunderte später, eine ernsthafte Antwort auf diese und alle anderen offenen Fragen rund ums Lippenspiel zu suchen – und haben inzwischen etwas Licht ins Dunkel gebracht.
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Menschen küssen sich in Europa schon seit Tausenden Jahren
Eine dieser offenen Fragen lautet: Seit wann küssen sich Menschen? Wie bei so vielen jahrtausendealten Traditionen ist es schwer bis unmöglich, die Erfindung des Kusses genau zu datieren. Forschende haben jedoch aufgrund ihrer Arbeiten zumindest eine ungefähre Ahnung davon, seit wie vielen Jahren sich Menschen mindestens schon küssen.
Der romantische Kuss sei frühestens in der Bronzezeit nach Europa gekommen, also im Zeitraum von 2200 bis 800 vor Christus, meint eine 2022 veröffentlichte Studie von Forschenden um die Genetikerinnen Meriam Guellil und Christiana Scheib von der University of Cambridge. Einwanderer aus der eurasischen Steppe brachten demnach womöglich die Kulturtechnik nach Europa.
Der Grund für die Annahme der Forschenden ist jedoch alles andere als romantisch: Sie verglichen anhand von jahrtausendealten menschlichen Überresten moderne und antike DNA von Herpesviren miteinander und kamen zu dem Schluss, dass sich der in Europa verbreitete Virus HSV‑1 erst innerhalb der vergangenen 5000 Jahre durchgesetzt hat. Und dafür muss etwas geschehen sein, das es diesem Herpesstamm ermöglichte, alle anderen zu überholen. „Möglicherweise gab es eine Zunahme der Übertragungen, die mit dem Küssen in Verbindung stehen könnten“, sagt Scheib in einer Mitteilung zur Studie.
Sprich: Weil immer mehr Menschen damit begannen, sich zu küssen, konnte sich das Virus gut ausbreiten. Aber egal, ob das Küssen mit der Verbreitung des in Europa gängigen Herpesstamms in Verbindung steht oder nicht: Menschen haben sich in Europa spätestens zur Zeit des Antiken Griechenlands Lippenküsse gegeben. Anders lassen sich die leidenschaftlichen Kussszenen auf griechischer Keramik wohl nicht erklären.
Nicht überall ist das Lippenspiel verbreitet
Auch in anderen Teilen der Welt haben sich Menschen womöglich schon vor Tausenden Jahren geküsst. Die 2020 gestorbene Sexualforscherin Ingelore Ebberfeld berichtete von einer Gewandnadel aus dem dritten Jahrtausend vor Christus, die ein küssendes Paar zeigt. Sie stammt vermutlich aus Mesopotamien oder Elam. Und eine Terrakottafigur aus Südamerika, konkret aus dem alten Peru, soll einen freizügigen Zungenkuss darstellen. Auch Guellil, Scheib und Co. berichten von einem ersten schriftlichen Beleg eines Kusses in der Bronzezeit in Südasien.
Romantisches Küssen ist also weit verbreitet, allerdings nicht in allen Teilen der Welt. Der britische Naturforscher Charles Darwin nahm noch an, dass sich Menschen in 90 Prozent der Kulturen weltweit küssen. Jedoch heißt es in einer 2015 veröffentlichten Studie, dass das romantische Küssen nur in 77 von 168 untersuchten Kulturen verbreitet ist, schrieben Forschende des Kinsey Instituts an der Indiana University. Das wäre nicht einmal die Hälfte (46 Prozent). In Asien, Europa und im Nahen Osten küssten sich Menschen demnach am meisten, in Afrika sowie Mittel- und Südamerika am wenigsten.
So beschrieb etwa der Wissenschaftler Kristoffer Nyrop Ende des 19. Jahrhunderts, dass sich Paare in einigen Volksstämmen Finnlands nicht küssten, dafür aber gern miteinander badeten. Und mitunter hatten andere Kulturen auch andere Einstellungen zum Küssen als Menschen in Europa. Etwa schrieb der französische Ethnologe Paul d’Enjoy 1897 nach seinen Reisen in China, dass Chinesinnen und Chinesen Lippenküsse als eine ekelhafte Spielart von Kannibalismus empfänden. Allerdings weist Literatur aus China darauf hin, dass sich die Menschen dort sehr wohl auch schon früher geküsst haben – allerdings eher beim Sex als in der Öffentlichkeit.
Bedürfnis nach Nähe oder sexuelle Kontaktaufnahme?
Damit hat die Wissenschaft zumindest einige mögliche Antworten auf das Wann und Wo. Aber die Frage, warum der Mensch überhaupt damit begann, seine Lippen auf die eines anderen zu drücken, ist wesentlich schwieriger zu beantworten. Dennoch gibt es immerhin einige wissenschaftlich fundierte Theorien.
Charles Darwin hatte bereits 1872 eine Theorie aufgestellt: Der Mensch habe ein Bedürfnis nach Nähe, und in manchen Teilen der Welt habe er deshalb eben andere Menschen auf den Mund geküsst. Schließlich sind sich zwei selten so nah wie beim Küssen. Und wo sich Menschen nicht küssen, dort streicheln sie sich demnach zärtlich oder reiben ihre Nasen aneinander. Das alles sei aber nicht angeboren, sondern erlernt.
Eine weitere mögliche Erklärung hat die US‑amerikanische Wissenschaftsautorin Sheril Kirshenbaum. Lippenküsse könnten demnach mit dem menschlichen sexuellen Verlangen sowie der Evolution und Farbe unserer Lippen zusammenhängen, wie sie in ihrem Buch „The Science of Kissing“, „Die Wissenschaft des Küssens“, schreibt. Menschen sind sexuelle Wesen und das menschliche Gehirn sei so programmiert, so Kirshenbaum, schnell auf die Farbe Rot zu reagieren.
Das wahrscheinlichste Szenario ist, dass, als unsere Vorfahren aufrecht standen, ihre Körper viele damit zusammenhängende Veränderungen durchliefen. Dazu gehört auch eine Verschiebung der markanten Sexualsignale.
Sheril Kirshenbaum,
Wissenschaftsautorin
Rot sei demnach in der Natur auch ein Zeichen für Sexualität: Weibliche Zwergschimpansen sind zum Beispiel für ihre rote Schwellung ihres Gesäßes bekannt, die eine erhöhte Empfängnisbereitschaft signalisiert. „Das wahrscheinlichste Szenario ist, dass, als unsere Vorfahren aufrecht standen, ihre Körper viele damit zusammenhängende Veränderungen durchliefen. Dazu gehört auch eine Verschiebung der markanten Sexualsignale“, schrieb Kirshenbaum.
Ebberfeld vermutete ebenfalls, dass Küssen allem voran einen sexuellen Charakter hatte. Sie verglich in ihrem Buch „Küss mich“ die Kulturpraxis mit dem Beschnüffeln bei Tieren, die sich bekanntlich gegenseitig an ihrem Genitalbereich riechen. Das diene zur sexuellen Kontaktaufnahme – und durch den aufrechten Gang habe sich dies bei Menschen zum Mund hin, also quasi von unten nach oben verlagert. Und beim Küssen könnten sie, so Ebberfeld, chemisch prüfen, ob sie zusammenpassen.
Vergleiche zwischen den Verhaltensweisen von Tieren und Menschen hinken jedoch häufig. Zum Beispiel ist bekannt, dass sich auch einige Tiere „küssen“: Zwergschimpansen und einige Fischgattungen wie der Küssende Gurami pressen ihre Münder gegeneinander. Allerdings gehen Fachleute stark davon aus, dass das jeweils eine ganz Bedeutung als bei Menschen hat.
Verhaltensforscher: Küssen ist eine „ritualisierte Mund-zu-Mund-Fütterung“
Einige Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler vermuten weniger romantische oder sexuelle Gründe für das Küssen. Der 2018 gestorbene österreichische Verhaltensforscher Irenäus Eibl-Eibesfeldt ging davon aus, dass die frühen Menschen Nahrung vorgekaut hätten und anschließend ihrem Nachwuchs in den Mund geschoben hätten. Dabei seien Menschen womöglich auf den Geschmack des Küssens gekommen, das laut Eibl-Eibesfeldt folglich eine Art „ritualisierte Mund-zu-Mund-Fütterung“ sei. Allerdings wird nicht überall geküsst, wo auch vorgekaut wird: Tatsächlich war das Vorkauen zum Beispiel im Kongo lange vor dem romantischen Kuss bekannt, den erst Europäerinnen und Europäer mitbrachten.
Zum Ursprung des Küssens gibt es also zwar viele Theorien, aber letztendlich noch keine Gewissheit. So spannend es auch sein mag, die Gründe zu erforschen, warum sich so viele Menschen auf der Welt gern küssen: Vielleicht können sich viele auch einfach damit zufriedengeben, dass Küssen einfach schön ist. Dafür gibt es immerhin eine gut erforschte wissenschaftliche Erklärung: Wir schütten dabei Hormone wie Oxytocin, Serotonin und Dopamin aus – nicht umsonst heißen sie auch Kuschel- und Glückshormone.