Die Bäume des Rosentals – da muss Regine Möbius an Georg Maurer denken
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Die Schriftstellerin Regine Möbius an ihrem Lieblingsort in Leipzig, dem Clara-Zetkin-Park. Sie ist Vizepräsidentin des Deutschen Kulturrates.
© Quelle: Nora Boerding
Leipzig. Mein Literaturkalender ist ein Verführer. Seit Jahren schenken ihn mir Freunde zu Weihnachten. Ungeduld überkommt mich, wenn ich das verhüllte Päckchen in der Hand halte, etwas größer als ein DIN-A 4-Blatt. Bereits durchs Geschenkpapier hindurch spüre ich an der schmalen Seite die Spiralbindung: Er ist es wieder.
In den ersten Januartagen beginnt des Kalenders Verführspiel: Ein spezielles Foto, dazu biografische Anmerkungen und einige Textzeilen füllen die jeweilige Seite. Unter den einzelnen Wochentagen stehen acht bis zehn Namen von Schriftstellerinnen und Schriftstellern mit deren Geburts- oder Todesjahren.
Ich lese die Namen, hole mir die Unbekannten per PC auf den Bildschirm, tauche in die Lebensläufe ein und merke kaum, wenn ich mich dabei verlaufe. Es gibt Lieblingsfotos, auf die schaue ich länger als eine Woche. Es gibt andere, von denen ich mich am Schreibtisch beobachtet fühle. Sie werden nach kurzem Lesen sofort überblättert. An neugierigen Tagen – und die sind nicht selten – erkunde ich kommende Wochen.
Günter Kunert und Walter Jens fand ich in dieser Woche, Marie Cardinal und die für Emanzipation kämpfende Rahel Varnhagen. Am 11. März hätte der 1907 geborene Schriftsteller Georg Maurer Geburtstag. Gelegentlich sah ich ihn auf seinen Spaziergängen im Rosental. Dieser Auenwald war ihm häufige Zuflucht. Mit dem Lyrikband „Bäume im Rosental“ hat er jenem Wald Ewigkeit verliehen.
Wechselbad der Gefühle wegen der Leipziger Flusslandschaft
Neulich dachte ich plötzlich wieder an Maurers Liebe zum Rosental. In der Leipziger Volkszeitung hatte ich gelesen: „Eine Million Liter täglich: Pumpt der Zoo dem Rosental das Wasser weg?“ So richtig konnte ich mir diese Wassermenge nicht vorstellen. Was bedeutete das für die Büsche und Bäume im Rosental, die Georg-Maurer-Bäume? Würden die Märzenbecher-Oasen verschwinden? Wo bliebe der Duft blühender Bärlauchwiesen? Ganz zu schweigen von den angrenzenden Flüssen und Bächen. Die Gegendarstellung des Zoos las ich.
Ein Wechselbad der Gefühle verbindet mich seit Kindertagen mit der Leipziger Flusslandschaft. Bis in die 1970er-Jahre lebte ich nahe dem Pleiße-Wehr, an dem sich zu dieser Zeit braunrote Schaumberge stauten, durchzogen von einer tiefschwarzen, nach Phenolen stinkenden Brühe. In DDR-Zeiten hatte die Pleiße den Spitznamen „Rio Phenole“ (den weitaus gehässigeren verschweige ich hier). Sie existierte faktisch nur noch als Abwassergraben. Allein die Phenol-Konzentration – ausgelöst durch das Chemie-Kombinat Espenhain – lag in der Pleiße 1000-fach über dem Grenzwert, der in der DDR für Trinkwasser galt. Deshalb wurde bereits ab 1953 ein Großteil des Pleißemühlgrabens bedeckt. Unterirdisch floss er durch eine sogenannte Wölbleitung.
Wer Umweltschutz forderte, der wurde der Opposition zugeordnet
Die Kritik an der zunehmenden Umweltverschmutzung zog sich durch die Jahre. Es entstand eine Bewegung, die auf die Zerstörung der Umwelt aufmerksam machte und deren besonderen Schutz verlangte. Der DDR-Staat packte diese Forderung in den Schubkasten: politische Opposition. Schriftsteller, die sich des Themas annahmen, hatten zwar einen großen Leserkreis, aber kleine Auflagen oder keine.
Zur Person
Regine Möbius, geboren 1943 in Chemnitz, kam als Sechsjährige mit ihrer Familie nach Leipzig. Nach einer naturwissenschaftlichen Laufbahn nahm die Literaturliebhaberin mit 40 ein Studium am heutigen Literaturinstitut in Leipzig auf. Bekannt wurde die meinungsstarke Autorin unter anderem mit ihren Texten über Erich Loest.
Der promovierte Chemiker Ernst P. Dörfler verließ 1983 seine feste Stelle an einem Institut, um sich als freier Schriftsteller dringender Umweltthemen zu widmen. Obwohl mehrere seiner Studien zur ökologischen Situation in der DDR vor 1989 unveröffentlicht blieben, schrieb der auf einem Bauernhof aufgewachsene Dörfler das Buch „Zurück zur Natur?“, in dem er Zusammenhänge zwischen Natur und menschlichen Aktivitäten in Wald und Wasser diskutierte. Dieser Band – von den DDR-Medien totgeschwiegen – wurde zu einem Kultbuch der Umweltbewegung. Als einer der ersten ostdeutschen Natur- und Umweltschützer hielt Dörfler zahlreiche Vorträge über Umweltprobleme. Die Folge: Das Ministerium für Staatssicherheit der DDR überwachte sein Privatleben mit Abhöranlagen.
In den 1990er-Jahren floss auch die Pleiße wieder oberirdisch
Resignation und dann wieder Hoffnung. Nach Stilllegung der verursachenden Industrie in den 1990er-Jahren hatte sich die Wasserqualität wesentlich verbessert. Allein die Farbe der Gewässer und zahlreiche Fischarten waren ein deutliches Zeichen. Und auch die Pleiße floss wieder weitgehend oberirdisch durch die Stadt.
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2009 wurde die Initiative Blue Community durch den Council of Canadians gegründet. Begeistert verfolgte ich die internationale Bewegung, deren Mitglieder Wasser in besonderer Weise als öffentliches Gut ansehen. Inzwischen gibt es in vielen Städten Initiativen, die kluge Aktivitäten rund um das Wasser unterstützen. Seit 2021 ist die Philipps-Universität Marburg die erste deutsche Universität bei Blue Community – und seit vorigem Jahr das Wolfgang-Ernst-Gymnasium in Büdingen die erste Schule weltweit. Auch Leipzig beschloss vor einem halben Jahr, Mitglied bei den Blue Communities zu werden.
Es war kein alter Literaturkalender, sondern mein privater von 2007, der mich erinnerte, dass der Leipziger Lyriker Adel Karasholi und ich in jenen März-Tagen an Maurers 100. Geburtstag erinnert hatten. Karasholi las bei dieser Veranstaltung eigene und die Gedichte Georg Maurers: „Bäume im Rosental! Ihr überlebt mich. / Aber ich hab euch genannt. Und findet ein Enkel / im Antiquariat einen Band, holzfrei, / so findet er das Holz, wo ich wandelte / und geht meine Wege.“